Der falsche Patient im OP

(22.06.2021)

VON EKATERINA KEL - SZ Süddeutsche Zeitung

Fehler passieren in jeder Klinik – und sie können fatale Folgen haben. Ein Pilot bringt Medizinern deshalb die Sicherheitsstandards der Luftfahrt bei.

Ein Patient wacht nach der Operation auf und stellt fest: Das falsche Bein wurde amputiert. Ein Horrorszenario, ein Extremfall. Tatsächlich kam es im Mai dieses Jahres in der österreichischen Stadt Freistadt dazu. Aber das ist eher ein Einzelfall. Viel wahrscheinlicher ist es, dass mal ein Medikament verwechselt wird. Oder ein wichtiges Detail in der Akte übersehen wird, beispielsweise eine Allergie. Die Folgen können katastrophal sein. Laut Weltgesundheitsorganisation sterben weltweit mindestens fünf Patienten pro Minute aufgrund von Behandlungsfehlern im Gesundheitswesen. Sind Krankenhäuser für Patienten wirklich sicher?

  Bei den Barmherzigen Brüdern in Nymphenburg will man das nicht einfach hoffen, sondern auch etwas dafür tun, dass es in ihrem Krankenhaus keine Katastrophen gibt. Deswegen haben sie einen Kapitän einer großen deutschen Fluglinie ins Haus geladen, denn wo, wenn nicht im Cockpit, trägt ein Mensch so viel Verantwortung für so viele Leben? Seminar für Seminar bringt Hans Härting in seinem lockeren Tiroler Zungenschlag allen Mitarbeitern des Krankenhauses, vom Chefarzt im OP bis zum Mitarbeiter in der Administration, Sicherheitsstandards bei. Zwei Drittel, etwa 450, habe er schon geschult, die Pandemie habe ihn etwas ausgebremst, so der 53-Jährige.

  Wenn Passagiere ins Flugzeug steigen, geben sie die Kontrolle ab, sie verlassen sich darauf, dass die Piloten alles doppelt und dreifach gecheckt haben, bevor sie abheben. Deshalb gibt es in der Luftfahrt die höchsten Sicherheitsstandards, sagt Härting. Seine Kollegen müssten jährlich ein verpflichtendes Training absolvieren, um überhaupt fliegen zu dürfen. „Warum ist das in deutschen Krankenhäusern nicht genauso?“ Wenn Patienten sich ins Krankenhausbett legen, geben sie auch die Kontrolle ab. Auch dort gibt es viele Situationen, in denen nichts schief laufen darf.

  Aber irren sei nun mal menschlich, sagt Härting. Er steht an einem schwülen Junimorgen im Seminarraum des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in Nymphenburg, durchs geöffnete Fenster sieht man das Schlossrondell in der gleißenden Sonne. Man vergesse doch ständig etwas, sei mit dem Kopf anderswo oder gestresst, und das Gehirn sei sowieso von Natur aus fehleranfällig. Zu glauben, dass das Personal beim Übertreten der Krankenhausschwelle fehlerfrei arbeite, sei falsch und sogar gefährlich. „Wenn es so ist, dass wir laufend Fehler machen, wieso bauen wir diesen Umstand nicht in unsere Arbeitsabläufe ein?“ Seine Lösung: Checklisten und eingeübte, standardisierte Sicherheitsverfahren, diese bringt er den Teilnehmern in seinen Schulungen nahe.

  Doch Härtings wichtigste Aufgabe ist wohl, den Menschen in ein paar Stunden zu verstehen zu geben: Es ist in Ordnung, Fehler einzugestehen, sie können jedem passieren, egal welcher Dienstgrad und welche Routine dahintersteckt. Um sie zu vermeiden, reicht Vertrauen nicht aus. Stattdessen muss die Arbeitsweise so organisiert werden, dass Fehler logistisch ausgemerzt werden.

  Ein Beispiel: Eine Medizinstudentin kommt ans Bett eines Patienten. Sie soll Blut abnehmen. Sie sind im Notfallzentrum, dort ist es gerade hektisch, und die Anweisung zur Blutabnahme ruft ihr die Ärztin nur kurz zu. Wie stellt die Studentin nun sicher, dass sie dem richtigen Patienten die Nadel in die Vene sticht? Falsche Blutwerte könnten den Verlauf der gesamten Behandlung stark beeinflussen. Und was ist, wenn es zwei Herr Meier auf demselben Flur gibt? Härting gibt vor: Zunächst soll man den Patienten direkt begrüßen, und zwar mit der Akte in der Hand direkt den Familiennamen benutzen. Guten Tag, Herr Meier, also. Als zweiten Schritt soll man nach dem Vornamen fragen. Und zwar nicht „Sie sind der Sebastian Meier, richtig?“, sondern: „Können Sie mir aus Sicherheitsgründen Ihren Vornamen nennen?“ Im dritten Schritt folgt auf dieselbe Weise der Abgleich des Geburtsdatums. Erst wenn alle drei Angaben mit denen in der Akte übereinstimmen, nimmt man das Blut ab. Ein, zwei Minuten Routine, die man einbauen sollte, so Härting. Im Zweifel rette das Menschenleben.

  Prompt setzt er sich auf einen Stuhl in der Mitte des Zimmers und mimt den Patienten. Nun seid ihr an der Reihe, soll das heißen, mehrere Teilnehmer spielen die Szene wie oben beschrieben durch. Es gibt Lacher, Verwirrung, Verunsicherung. Aber auch Erleichterung: Jeder und jede im Raum weiß von kleinen Verwechslungen zu erzählen, niemand muss sich schämen. Meist sind es Anekdoten. Aber man versteht, das System Krankenhaus ist eine tägliche logistische Herausforderung. So erzählt Steffi Patzkowski, die als Physiotherapeutin auf verschiedenen Stationen arbeitet, zum Beispiel auf der Intensivstation, in der Orthopädie oder Gerontologie: „Mir ist es auch schon mal passiert, dass ich die falsche Schulter behandelt habe.“ Das sei ihr dann ganz peinlich gewesen, als sie es gemerkt habe. Normalerweise schaue sie einfach nach der Narbe von der vorhergehenden OP, aber dieses Mal habe es keine gegeben. „Mit solchen Listen, wie wir sie hier im Training lernen, könnte man so etwas schon verhindern“, sagt die 38-Jährige. „Das nehme ich auch mit heute, dass es okay ist, dass wir alle Fehler machen, und dass man Verständnis für alle anderen Berufsgruppen im Haus entwickelt.“

  Ein Mitarbeiter aus der Radiologie erzählt, dass er schon lange darauf achtet, niemanden mehr im Warteraum mit dem Namen direkt aufzurufen. Man müsse stets den Patienten selbst nach seinem Namen fragen. „Sonst stehen immer wieder die falschen Menschen auf, einfach weil sie denken, sie wären schon dran, sie hören gar nicht richtig hin.“ So sei es auch schon mal passiert, dass der falsche Patient an der falschen Stelle bestrahlt worden sei, gibt er zu bedenken.

  Und selbst die Geschäftsführerin, Nadine Schmid-Pogarell, weiß am Telefon von einem Fall zu berichten: „Wir hatten mal zwei Patienten mit dem identischen Nachnamen und sehr ähnlichen Vornamen auf derselben Station, nur ein Zimmer lag zwischen ihnen.“ Prompt sei der falsche in den OP gefahren worden. Zum Glück habe das Personal noch kurz vor dem Eingriff die Verwechslung bemerkt. „Das Leben ist voller solcher Konstellationen“, sagt Schmid-Pogarell. Deshalb seien die Sicherheitstrainings für alle Mitarbeiter so wichtig.

  Von Anfang an begleitet Isabelle Schweizer die Schulungen. Sie ist Anästhesistin und habe das Thema Patientensicherheit „quasi mit der Muttermilch“ aufgenommen, wie sie sagt. Schließlich sitze sie im OP-Saal, wie ein Pilot, ebenfalls in einer Art Cockpit, vor ihr jede Menge Geräte und blinkende Knöpfchen. Sie sagt, es gehe bei den Sicherheitstrainings darum, „das Denken mit zu verändern“, eine Kultur zu etablieren, in der es okay ist zu hinterfragen. Und noch was fügt Kapitän Härting hinzu. Wenn der Fehler denn doch passiert, soll man nicht zuerst nach dem Schuldigen suchen. Das ändere nicht den Grund für den Fehler – und der nächste sei schon programmiert.

Ein, zwei Minuten Routine,
die man im Alltag einbaut,
retten im Zweifel Menschenleben

SZ Süddeutsche Zeitung

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